Appell Russland Ukraine

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Mitglieder des Bundestages,
sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,

Wladimir Putin sieht sich mit seiner inszenierten Scheinwahl zum 5. Mal bestätigt als der Führer eines neuen imperialen Russland.

Dies ist Anlass, daran zu erinnern, dass die Russländische Föderation sich nach Auflösung der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 am 12. Dezember 1993 eine Verfassung gegeben hat, die ihren Bürgern Freiheit und Rechtsstaatlichkeit versprach. In 24 Jahren seiner Herrschaft hat Putin daraus ein totalitäres und gewaltbereites Regime gemacht.

Unter dem Leitmotiv einer „Diktatur des Gesetzes“ entmachtete er die in der Verfassung vorgesehenen Kontrollinstitutionen Schritt für Schritt und brach die auf das Völkerrecht gegründete internationale Ordnung. Der Annexion der Krim 2014 und der kriegerischen Aggression im Donbas folgte vor zwei Jahren der offene Angriff auf die gesamte Ukraine. Parallel dazu setzt der Kreml seit Jahren hybride Kriegsführung gegen demokratische Länder ein, um sie von innen zu destabilisieren und neue Konfliktherde vorzubereiten.

Die deutsche Politik war viele Jahre bestrebt, durch eine besondere Partnerschaft mit der Russländischen Föderation dieser einen Wandel zum Besseren zu ermöglichen. Spätestens am 24. Februar 2022 wurde offensichtlich, dass die deutsche Vermittlungspolitik gescheitert ist. Aufgrund seiner historisch-politischen Verantwortung und seines wirtschaftlichen Gewichtes in der europäischen Staatengemeinschaft muss Deutschland nun das Seine dazu beitragen, dass der Diktator im Kreml nicht obsiegt, sondern sich jene Rechtsprinzipien durchsetzen, die gleichermaßen der russischen Verfassung und der internationalen Ordnung zugrunde liegen.

Beide hängen zusammen. Die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine in den Grenzen von 1991 ist völkerrechtlich geboten und trägt dazu bei, dass auch Russland sich demokratisch entwickeln kann, wie dies ein wachsender innerer Widerstand und die russische Emigration erhoffen.

Mit der Annexion der Krim hat der Kreml den gewaltsamen Weg zu neuer „imperialer Größe“ und zur Zerstörung der internationalen Ordnung beschritten. Mit seiner Umkehr wird er diesen Weg verlassen und in den Kreis der europäischen Völkerfamilie zurückkehren. Hingegen wird ein Einfrieren des Krieges weder zu einer sicheren Grenze noch zur Wiederbelebung profitabler russisch-deutscher Wirtschaftsbeziehungen führen.

Auch die begüterten Eltern in Russland, die ihre Kinder an die besten Schulen und Universitäten in Europa schicken, und die unerwartet große und mutige Anteilnahme der Öffentlichkeit am Tod von Alexei Nawalny sind sprechende Zeichen dafür, dass viele Menschen in Russland sich jenseits aller Staatspropaganda eine europäische Perspektive mit einem Leben in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand wünschen.

Hunderttausende russischer Soldaten sind in diesem willkürlichen Angriffskrieg gefallen oder schwerstverletzt. Auf ukrainischer Seite steht das klare Recht zur Verteidigung. Aber schon jetzt sind die menschlichen Opfer, Traumata und materiellen Schäden unermesslich. Über vier Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge haben in der EU eine Zuflucht gefunden, davon mehr als eine Million in Deutschland. Es sind überwiegend Frauen und Kinder. Die Rechnung Russlands, auf lange Sicht einen Abnutzungskrieg zu gewinnen, darf nicht aufgehen.

Wir fordern Sie daher auf, die Ukraine endlich, gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarländern und den USA, mit militärischer Ausrüstung und Munition umfassend und ohne Tabus zu unterstützen.

Darüber hinaus muss Deutschland sich vorbereiten, dass nach der Befreiung aller okkupierten Teile der Ukraine gemeinsam mit den internationalen Partnern, mit der Ukraine und der russischen Opposition das Momentum genutzt werden kann, all jene Kräfte zu unterstützen, welche die russische Verfassung von 1993 wiederbeleben und, vereint mit tapferen Menschen wie Julija Nawalnaja, ein besseres Leben in Russland möglich machen.

Dies erfordert Mut und Entschlossenheit, Großzügigkeit und Weitsicht deutscher Politik. Wenn Befürchtungen, Ängste und Zaudern das Handeln Deutschlands bestimmen, wird noch viel unnötiges Leid über die Ukraine und Russland kommen. Das Durchhaltevermögen des ukrainischen Militärs kann keiner prognostizieren. Wenn es aber aufgrund deutscher Zögerlichkeit und mangelnder Unterstützung nicht durchhält, wird dies auch für Deutschland und seine östlichen Nachbarn eine Katastrophe sein.

Wir lieben und wollen Frieden. Wenn unsere Friedensliebe aber dazu führt, dass wir diesen Konflikt scheuen, wird Putin nicht nur die Ukraine zerstören, sondern auch den Krieg auf seine Weise nach Deutschland tragen. Keiner kann das wollen.

Nur Ihr schnelles und entschiedenes Handeln kann den Menschen in der Ukraine und in Russland helfen, eine gedeihliche europäische Zukunft in Frieden, Freiheit und Demokratie zu finden.